Münchener im Hiphop-Himmel

Eine Truppe arbeitsloser Jugendlicher schreibt und probt ein Musical - und erobert damit den Broadway

Man kommt als freie deutsche Theatergruppe nicht zufällig zum NEW YORK INTERNATIONAL FRINGE-FESTIVAL. Immerhin ist das Fringe (= Franse, Saum) Amerikas begehrtester Spielplatz für freie Theatergruppen. Ganz ohne Glück gelangt man andererseits auch nicht an die Lower Eastside, wo jedes Jahr um die 200 "companies" aus aller Welt aufspielen. Für die WestEndOpera, das vielgelobte Hiphop-Bühnenstück, bestand der nette Zufall darin, dass dem ehrenamtlichen Fringe-Scout André Güdel ein SPIEGEL-Bericht in die Hände fiel. Das war`s doch, was die Amerikaner suchten: Unerwartetes, Verblüffendes, Frisches. Eine Truppe Münchner Jugendlicher aus 11 Herkunftsländern inszeniert sich selbst. Mit Tiefgang aber nicht triefig. Versprach das nicht Farbblitze, die auch im Hochspannungs-Umfeld von  New York zünden könnten?
Es zündet gleich zu Anfang. Man riecht es an diesem  25. August 2000 im 23. Stock der United Nations Plaza, wohin das deutsche Konsulat die Münchner Truppe samt Regisseur Theo König und Geschäftsführer Ulrich Gläß zur Begrüßung eingeladen hat. Kaum hat der Repräsentant seine Freude darüber in Worte
gekleidet, dass sich Deutschland, von brutalen Glatzen braun verschattet, hier denkbar multikulturell zeige, als Feueralarm gegeben wird. Das Hochhaus bitte nur über die Treppe verlassen! Die jungen Bühnenhelden fühlen sich wie in den vielen Wolkenkratzer-Katastrophenfilmen, wo man sich an der Seite von Action-Helden im Muskel-Shirt  durchs weltliches Strafgericht kämpft. Vorzugsweise.
Das Flammenmeer, das auch in der WestEnd-Aufführung gegen Ende feuerfarben  zuckt - ist in New York allerdings aus Sicherheitsgründen pyrotechnisch reduziert. Spin, der "korrekte", der kompromisslose Hiphopper, hat zur Milleniums-Sylvesterfeier  das Hiphop-Haus in die Luft gesprengt, eine alte Graffiti-veredelte Industrieruine. Ein Stück übers Wegsaniertwerden. Er kommt damit dem anrückenden Bautrupp zuvor, der an dieser Stelle eine Mall, einen Kaufrauschtempel, hochziehen will.
Kaufrausch! Das Wort haben die Darsteller, meist junge Arbeitslose, nun in rund hundert Aufführungen in München, Hamburg, Stuttgart, in St. Pölten geflüstert, gezischelt und gesungen. Aber erst in New York, dem plötzlich Stein und Wirklichkeit gewordenen Hintergrund all der MTV- und Viva-Clips, erleben sie was das ist: Genauer und schmerzhafter: Kaufrauschentzug.
New York ist nämlich in erster, in zweiter und in dritter Hinsicht erst einmal eines: ultra-brutal teuer.  Und wenn dann schon mal was günstig ist, fehlen gerade die entscheidenden paar Dollar. Dado, der Bosnier, den es während des Jugoslawienkrieges aus seinem brennenden Dorf nach München verschlagen hatte, kann sich zwar gerade noch eine endgeile, silberne Nylon-Hiphop-Baggy-Hose kaufen - für das Geld, das ihm die Tourkasse als Lebensmittel-Zuschuss gewährt hat. Aber dann das! Drama! Wahnsinn! Liegt doch in einem Straßenladen an der 125. in Harlem für zehn Dollar ein Fetisch, der in München um die 7O Mark kosten würde: das Original-FUBU-Schlabberhemd mit dem 100 Prozent richtigen, endgeilen chinesischen Schriftzeichen. Man fühlt sich plötzlich beschissen arm, meint Dado.
Also nicht richtig arm, ruft er sich selbst zur Ordnung; bettelarm natürlich nicht. Denn die sprichwörtlichen Klüfte zwischen oben und unten, tiefer als die Straßenschluchten, lassen niemanden kalt. Auch nicht die Coolen. Von den sozialen Kontrasten hatte man vor dem Ablflug ins gelobte HipHop-Land ja durchaus gehört. Aber was heißt schon gehört?
Kati Golascha - im WestEnd-Stück tanzt sie den Totentanz der drogensüchtigen Yola - hat in der Bronx eine schwarze Familie im Dreck hocken gesehen: "Die haben durch mich durchgeschaut". Sich nicht ganz die Sprache verschlagen zu lassen, das ist Kati "irgendwie wichtig", damit New York sie nicht total verzwergt. In den wenigen ruhigen Minuten im YMCA, wo die Truppe in sauberen Fünf-Quadratmeter-Doppelzimmern schläft, hat sie ins Tagebuch geschrieben: "Gigantenstadt / dem Meer entstiegen / funkelnde Augen / erleuchten die Nacht / Standhaftigkeit / die Hektik überbrückt /  ... "
Andere halten Abstand mit ihren Pocketkameras. Fotografisch entwickeln sie dabei Ehrgeiz. Dado jedenfalls will unbedingt nachts, von der schwankenden Staten-Island-Fähre aus, die weltberühmteste Skyline blitzen. Vielleicht gibt ja genau das zu erwartende Wischbild New York besonders realistisch wieder.
Realismus ist eines dieser Wörter, das kein Theatermann lange unbesprochen im Raum stehen lassen kann: "Die Jungen, haben einen anderen Realismusbegriff als wir", sagt John Clancy, 36, erfolgreicher Bühnenautor, Regisseur und künstlerischer Direktor des  Fringe-Festivals. "Genau deshalb muss es Fringe geben! Die neuen Theaterleute haben intuitiv erfasst, dass es keinen Zweck hat, mit Film und Video zu konkurrieren. Die entleeren ihre Köpfe und Herzen direkt auf die Bühne."
Gemeinsam mit Managing Director Elena K. Holy ist Clancy hauptverantwortlich dafür, dass 11 Tage lang an 20 Spielorten rund 1200 Aufführungen absolviert werden. Ruhig fegt er das Pflaster vor der Fringe-Central-Garage von Kippen und abgerissenen Plakatfetzen frei. Die Metapher für das, was er unter Off-Off-Brodway versteht: Basisarbeit. Neues wächst nur von unten nach. Von wo auch sonst?
Die Fringe-Zentrale in der Stanton-Street, Lower Eastside, ist selbst schon ein Stück. Ein Kein-Mannstück; die Kulisse kommt notfalls auch ohne Akteure aus. Eine Zufalls-Collage aus  Requisiten und überbordenden Infozettel-Stapeln. Sitzmöbel wie aus alten Omnibussen. Eine Wand gibt sich als Gummizelle. An einer Wäscheleine baumeln Plastikwimpel. Hier wird John Clncys diesjähriger Festivalfavorit aufgeführt: "Die vollständigen verschollenen Arbeiten von Samuel Beckett, so wie sie in einem Umschlag (angekokelt) in einer Pariser Mülltonne gefunden wurden, versehen mit der Aufschrift: "Unter keinen Umständen aufführen: Unter GAR! KEINEN! UMSTÄNDEN! Oder ich entsteige dem Grab."
Die groteske Negation in diesem Bandwurm-Titel erinnert John an die Gründungsumstände von Fringe vor vier Jahren. Theaterleute hatten sich versammelt, um sich gegenseitig die Idee auszureden, etwas wie das Edinburgh Theaterfestival auch in New York auf die Beine zu stellen. Zwar war nicht einzusehen, warum sich die kreativsten freien Theater- und Tanzgruppen aus den USA Jahr für Jahr nach Schottland drängten. Aber fehlte es nicht für ein US-Pendant an wichtigen Voraussetzungen, vor allem an Geld? Man versicherte sich gegenseitig Monate lang, dass es wohl wirklich vermessen wäre, nahm dann Maß - und sprang. Und landete weich: Das Fringe-Festival galt schon bald nach seiner Premiere im Sommer ´97 als der Orientierungsort für freie Theater in den  USA und wird es mehr und mehr auch in Europa, Lateinamerika, Asien und Australien....  John drücktt seine vielleicht 60. Tageszigarette aus. Die Ketten sind lang während des Festivals bei höchstens vier Stunden Schlaf pro Tag.
"HiphOpera" haben sich die Münchner auf Anraten der New Yorker Gastgeber genannt. Damit nicht beim New Yorker Publikum der Irrtum entstehen kann, hier handle es sich um die 339. Adaption der Westside Story. Eingewoben in die Haupthandlung - Heimatvertreibung durch Geld - haben die jungen Autoren und Darsteller viel gesungene, getanzte, gerappte eigene Biografie.
Zum Beispiel die Figur der Serap, eine Türkin, die auf der Sichel des Halbmondes tanzt, gefangen zwischen muslimischem Traditionalismus ihres Elternhauses und den Verlockungen, einfach nur jung, sexy und frei zu sein: Was passiert mir eigentlich, fragte sich deren reales Alter Ego Zinet in München, wenn mein Bruder in die Vorstellung kommt? Zum Beispiel die drogenabhängige Yola, die sich den Goldenen Schuß setzt, als ihre "family", der WestEnd-Haufen, zerfällt. Kerstin, die Yola im Stück nicht spielt, nennt sie manchmal noch immer liebevoll "meine Yola". In der "Textarbeitsgruppe", die "ihre" WestEndOpera in aufwühlenden Sitzungen zusammengekämpft und ­geschrieben hat, war "Yola" strittig wie kaum eine andere Figur. Kerstin, die im Bahnhofsviertel von Frankfurt hartes Pflaster und harte Drogen erlebt hatte, wollte Yola nicht sterben lassen "Nur über meine Leiche!", fauchte sie. Der Bühnentod war ihre zu melodramatisch, oder auch zu hoffnungslos. Sie selbst hatte sich ja schließlich auch am eigenen Schopf aus dem Drogensumpf gezogen.
Oder die Bühnenfigur der Sarah, die ihrer ratlosen Clique erklärt, warum sie keinen Bock auf eine ausgelassene Hiphop-Weihnachts-Jam hat: An einem Heiligabend wurde sie, elfjährig, missbraucht. Ihr Coming Out war etlichen Hard Core-Hiphoppern denn doch zu gefühlsintensiv; ein Missbehagen an "Sarahs Lied" ist auf der Bühne spürbar.
Doch in New York rührt gerade diese Szene einen dunkelhäutigen New Yorker Pianisten in der ersten Reihe zu Begeisterungstränen. "Viel besser als Cats! So gut wie Hair!", Mehr noch als dieses Lob freut Pauli, den Darsteller des "korrekten" Hiphoppers Spin, ein anderer Zuspruch: FABEL, die New Yorker Hiphop-Legende von der "Magnificent Force", zeigte sich beeindruckt. Auch von Paulis professioneller Bodenakrobatik. Allerhöchstes New Yorker Breaker-Niveau. Das galt es zu beweisen. Und das bestätigt sich auch nach allen vier Vorstellungen: Jedesmal schieben sich New Yorker Street Boys auf die Bühne , um sich von Pauli den "Ninety", den mehrfach um die Längsachse gewirbelten einarmigen Handstand, zeigen zu lassen.
Pauli hat sich erst kurz vor New York ins Team hineingespielt. Er ist ein absoluter Hauptgewinn. Keine Frage. Aber der alte Spin - ein guter, aber kein Super-Breaker wie Pauli - hatte diese unvergleichliche Rattenschärfe, mit der er seinen Bühnen-Widerpart, den Kompromissler Wizzard, in zwei furiosen Rap-Battles ziemlich fies zusetzt. Ohne das Schneidende von "Ex-Spin/Enz" wirkt nun der "Immer noch-Wizzard/Jan" drehbuchwidrig überlegen. Eine kleine dramaturgische Schieflage. Ist das Stück eigentlich so  sturmsicher wie das Empire State Building?
Die Nachdenklichen in der Truppe denken in Manhattan etwas lauter nach als daheim. Ist nicht New York ein gefährlicher Höhepunkt? Man hat zwar in der Stadt mit dem verwöhntesten Theater-und Show-Publikum der Welt die Anfangs-Besucherzahlen ohne jede Werbung mehr als verdreifacht. Hochgespielt, sagt man dazu. Aber was soll nach so einem Highlight noch kommen? Düsseldorf?
Die Stimmungslage ist widersprüchlich: Man hat sich auf dem New Yorker Pflaster die Füße wundgelaufen, aber dann an vier Abenden trotzdem Leistung gebracht - Das ist wahr, und das ist verdammt noch mal nicht wenig. Aber wird das daheim auch wieder so gehen? Wenn selbst Kartenabreißen im Kino mehr bringt als gelegentliche Auftritte. Man hat das doch gesehen: Da ist man schon mal in New York und kann sich nicht mal ´nen Termin in den hipsten Nailstudios der West leisten ...
Und schließlich reiste auch noch der Spaltpilz mit im Tross: ein freies Fernseh-Produktionsteam, das mit drei ausgesuchten Gesichtern aus dem Westend-Team durch die Bronx,  Queens,  Harlem und den Central Park getingelt ist, um "Szenisches" einzufangen? Warum die, warum nicht wir?

Kerstin, die im Stück, eine intrigante, überdrehte "Fernseh-Tussi" spielt, eine Unsympathin, deren Angebote die Westend-Clique endgültig fraktionieren und moralisch brechen sollen, meint spitz: "Meine Rolle wird ja schon laufend außerhalb der Spielzeit gespielt, oder?"
Leise bröckelt es im Schatten von Zweihundert-Meter-Fassaden. Und noch ein paar Fragen: Was wäre denn, wenn Felix, Bayerisches Komik-Naturtalent und als rappender "Master of Ceremony" absolut unersetzlich, die gebotene Chance bei einer Münchener TV-Station annimmt? Und wenn ja, könnte man es ihm verdenken? War New York für die WestEndOpera also am Ende Ritterschlag oder Todesstoß ?
Irgendwann nach der letzten Vorstellung, so zwischen drei und vier Uhr nachts auf einer Kellerfete - "total spacig" am Ostfuß der Brooklyn Bridge und "endkrass" mit Original-Polizeikontrolle - sagt einer, auf den man in der Gruppe hört, die entscheidenden Erlöserworte: "Eigentlich ist das Teil, so wie wir`s jetzt haben, zu gut, um es nicht noch `n paar Umdrehungen weiter zu ziehen! Leute, wir packen`s! Ich habe nur noch 21 Dollar. Aber darauf geb ich einen aus."

Claus-Peter Lieckfeld

Der Autor hat die Westend-Truppe in New York nicht ganz neutral begleitet. Mit einer Reihe anderer Profis betreute er das von der Stadt München und dem Dt. Musikrat unterstützte Projekt, junge Arbeitslose von der Straße auf die Bühne zu holen. Im Programm - Folder figuriert Lieckfeld als "Text Coach"."

Anfragen wegen Auftritten und Sponsoring an:
WestEndOpera, Ickstattstraße 28, 80469 München
fax: 089/12789768,
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Kontakt zum fringe-Festival
www.fringenyc.org