Sprungbrett WestEndOpera
Sandra (18) aus Neuperlach singt die Hauptrolle
Sandra steht im Scheinwerferlicht. Schmale Gestalt, graues T-Shirt,
graue Trainingshose. Im Hintergrund die rote, mit Graffiti besprühte
Ziegelmauer eines halb eingestürzten Fabrikgebäudes. Die Schlußakkorde
von Sandras Ballade verebben im Nichts. Sie läßt die Hände
mit dem Mikrophon auf die Brust sinken: "Ich tanze auf dem halben Mond,
mal geliebt und mal verflucht, doch ich hab' es wenigstens versucht", singt
sie. Dann Stille. "Das machen wir noch mal", ruft Regisseur Dick Städtler
(51): "Ton ab." Die Musik setzt wieder ein. Sandra hebt das Mikro und singt
entschlossener diesmal. Sandra gehört zu 21 jungen Leuten, die
für die "WestEndOpera" im Theater der Jugend proben. Vor anderthalb
Jahren waren sie noch Laien inzwischen haben sie die Feuerprobe vor
großem Publikum auf dem Tollwood-Festival bestanden. Das Musical
handelt vom Leben in der öden Vorstadt einer fiktiven deutschen Metropole.
Eine Fabrik-Ruine das Westend-Haus ist Treffpunkt der Clique.
Gemeinsam entfliehen die jungen Leute mit wilden Partys der Monotonie.
Die Geschichte wird mit den Ausdrucksmitteln der 90er Jahre erzählt:
Breakdance und HipHop, Skateboards und Graffiti.
Celine Dion ist ihr Idol. Die 18jährige ist in den Hochhausschluchten
Neuperlachs großgeworden. Gewalt und Drogenkriminalität sind
auf den Straßen der Betonstadt Realität, können ihr Selbstvertrauen
nicht erschüttern Sandra wohnt gern hier. "Ich kenne nichts
anderes", sagt sie mit stark rollendem "R". Nur nachts, wenn sie mit der
U-Bahn heimfährt, wird es ihr manchmal mulmig. Einmal, in der letzten
U-Bahn, als ein Fremder sie unentwegt anstarrt, fährt sie eine Station
weiter und nimmt dort ein Taxi nach Hause. In ihrem mit Möbeln vollgestopften
Acht-Quadratmeter-Zimmer im achten Stock eines tristen Plattenbaus träumt
Sandra einen Traum: Sie will Sängerin werden Celine Dion ist
ihr Idol. "Dafür gebe ich alles", sagt sie. Deshalb hat sie im November
1997 beim Casting für die "WestEndOpera" vorgesungen. Aus 132 jungen
Münchnern wird sie für die Hauptrolle ausgesucht: "Serap", eine
Türkin der zweiten Generation, hin- und hergerissen zwischen Traditionen
und dem freizügigen Leben eines deutschen Teenagers.
Zwischen zwei Kulturen. Im Westend-Haus geht eine Party ab. Die Clique
tanzt zu harten HipHop-Beats. Spin und Wizzard, die beiden Anführer,
zeigen was sie als Breakdancer drauf haben: Gestützt auf Hände,
Kopf und Schulter wirbeln sie über den Boden. Mittendrin tanzt Serap.
Da tritt ihr Bruder Serkan als Partybreaker auf den Plan: Er soll Serap
abholen ihre Eltern wollen sie in der Türkei zwangsverheiraten.
Die Musik wechselt zu nervösem Baß-Schlagzeug-Sound: "Wir sind
die Familie", singt Serkan und packt Serap am Arm. Ihre Freundin Proxi
geht dazwischen: "Hier ist sie frei, tut was sie will, lebt ohne Maske,
Mann und ohne Drill", rappt sie. Die Clique stellt sich vor Serap
Serkan muss ohne seine Schwester abziehen. Im Schulungszentrum der Schauspieltruppe:
Serap ist wieder zum kaugummi-kauenden Teenager Sandra in Schuhen mit Sechs-Zentimeter-Sohle
mutiert. Noch im Tanzdress, die hellbraunen Haare zusammengeknotet, fläzt
sie sich mit angezogenen Beinen auf die durchgegessenen Polster. Sie weiß
genau, wie man sich als Ausländerin der zweiten Generation fühlt:
Sandra heißt mit Nachnamen Zivkovic und ist Kroatin. Ihre Eltern
sind vor 30 Jahren nach Deutschland gekommen. Mindestens einmal im Jahr
fährt die Familie in die Heimat. "Ich bin Kroatin und Deutsche", sagt
sie. Den Bosnien-Krieg hat Sandra hier miterlebt. "Eines Abends, als meine
Mutter telefoniert und plötzlich geweint hat, wusste ich, dass mein
Cousin tot war die Serben hatten ihn erschossen", erzählt sie
und ihr Mund bekommt einen harten Zug. Doch schnell bricht der fröhliche
Teenager wieder durch: "Ich habe mich heute auf dem Klo piercen lassen."
Stolz schiebt sie das T-Shirt nach oben, öffnet den Verband, der über
ihrem Bauchnabel klebt: Zum Vorschein kommt ein in Gold gefasster, blauer
Stein. "Das dürfen meine Eltern nicht sehen", sagt sie. Kroatische
Familien seien sehr partriarchalisch die Worte des Vaters Gesetz.
"Früher musste ich um acht Uhr abends zu Hause sein. Da hab' ich gelernt,
pünktlich zu sein." Immerhin hat sie ihren Traum vom Singen durchsetzen
können. "Meine Eltern wollten, dass ich Industrie-Kauffrau lerne",
erzählt sie. Aber nach 20 erfolglosen Bewerbungen steht für sie
fest, dass die "WestEndOpera" ihr Lebensinhalt wird.
Cliquen-Treff am Ostbahnhof. Die Clique feiert im Westend-Haus. Wollo,
der Dealer, versucht Yola, die endlich wieder clean ist, wieder auf die
Nadel zu bringen. Während die Clique tanzt und rappt, macht er sich
an Yola ran umarmt sie, will ihr Stoff geben. Spin, der die Szene
beobachtet, geht dazwischen. Er schlägt Wollo. Yola ist erst einmal
gerettet die Clique gibt ihr Halt. Sandras Clique hat sich
immer im "Stop In" am Ostbahnhof getroffen mit Blick über den
Busbahnhof. Hier hat Sandra ihre Freundin Marla kennengelernt. Sie ist
fünfzehn Marla siebzehn. "Marla schien so stark. Ich war schüchtern
und wollte sein, wie sie. Sie war mein Idol". Im "Stop In" ist jeden Tag
Party. Auf dem Klo wird gekifft. Auch Sandra und Marla probieren Joints.
Dann nimmt Marla Exstasy. "Sie wollte nicht, daß ich es erfahre",
sagt Sandra und rührt nervös in ihrem Capuccino. Marla verändert
sich. "Einmal wollte sie mich schlagen nur so." Da hat Sandra genug
von der Clique. Später hört sie, dass Marla an der Nadel hängt.
Zoff im Westend-Haus. Im Westend-Haus überschlagen sich die Ereignisse:
Wizzard hat sich vom Fernsehen kaufen lassen Spin stellt ihn zur
Rede. Die Clique spaltet sich. Es kommt zum Showdown: Unterlegt mit hart
wummerndem Baß-Sounds prügeln Brüder und Schwestern aufeinander
ein bis alle auf dem Boden liegen. Das Ende der Ersatzfamilie. Ein Ende
ist auch immer ein Beginn: Achtzehn Monate Tanz- und Gesangsunterricht
haben die Darsteller der "WestEndOpera" zusammengeschweißt. Sandra
hat den Realschulabschluss gemacht. Ihren Freund hat sie allerdings an
ihren Traum vom Ruhm verloren: Er fühlte sich vernachlässigt
und hat sich von ihr getrennt. Ein Preis, den Sandra zahlt.
Von Hartmut Netz