Süddeutsche Zeitung, 5. Januar 1998
 

Liebe in den Zeiten der HipHopera
Das ehrgeizige Musicalprojekt "WestEndOpera” soll jugendliche Wirklichkeit widerspiegeln
 

Sie tut es. Geht auf die Bühne. Erzählt, wie es ist, auf der Frankfurter Zeil auf einer Isomatte vom Sozialamt zu hausen. Vier Jahre lang. Erzählt von den Drogen. Wie ihr "gewaltig der Arsch ging”, als der Knast kam. Kerstin ist 22 Jahre alt. Sie erzählt von ihrem Leben im Jugendtreff "Soundcafé” neben dem Ungererbad. Vier Dutzend Jungen und Mädchen hören ihr atemlos zu. Kerstin ist ein bißchen aufgeregt, "weil es mich immer noch berührt”, sagt sie. Wohin damit? In die "WestEndOpera”. Ins Deutsche Theater? Unter der Regie Leander Haußmanns? Eine Art "Hair” der neunziger Jahre soll es werden. Kerstin ist eine der Autorinnen dieses Werkes. So ein Projekt hat es bislang nirgendwo gegeben. Drei Profis leiten es ? der Komponist Vridolin "Fitti” Enxing, der Journalist und Kabarett-Autor Claus-Peter Lieckfeld, der Theatermann Dick Städtler. Wochenlang haben sie aus 130 Bewerbern 53 begabte Jugendliche im Alter zwischen 16 und 24 Jahren ausgesucht, die singen, tanzen, texten, skaten, kämpfen und sprühen können. Das Ä und U der Gruppe: Aus 20 Nationalitäten setzt sie sich zusammen, von Äthiopien bis USA ist alles vertreten, unter den Deutschen sind fast drei Viertel Einwanderer. Die meisten sind ohne Perspektive, haben keine Lehre, keinen Job. Etwas Sinnvolles zu tun, womöglich Qualifikationen für einen späteren Beruf zu erwerben, ist ein Aspekt der "WestEndOpera”. Lieckfeld betont aber: "Wir wollen nicht abgetan werden als Gutmenschen, die es nur gut meinen. Wir wollen keinen sozialpädagogischen Bonus, sondern mit Qualität überzeugen.” Noch checken sich die Jugendlichen gegenseitig ab, erzählen, tanzen und singen sich vor. Von diesem Jahr an gibt es richtig Arbeit. Das "Soundcafé” wird zur "WestEndOpera”-Schule inklusive Tonstudio, die Olympia-Eissporthalle zum Übungsgelände des Skate-Teams, die Computer-Räume des Koproduzenten FA- RO Marketing werden zum gestalterischen Rechenzentrum. Design-, Tanz-, Skate- und Kampfsportlehrer machen die Nachwuchskünstler fit, streng nach Stundenplan. Enxing, Lieckfeld und Städtler halten sich inhaltlich weitgehend heraus. Selbständig muß das Ensemble bis Mitte April einiges gebacken kriegen: Text, Musik und Handlungsablauf, die Rollenverteilung, Action-Gruppen für Rap- und Tanzeinlagen, das Bühnenbild, PR-Arbeit und einen Film, der die Entstehung all dessen dokumentiert. Ein "work in progress”. Bis jetzt gibt es nur vage Vorstellungen, worum sich die "Opera” drehen soll. "WestEndOpera” klingt nach "West Side Story”. Und so wie dieses Musical ein Stück amerikanisches Lebensgefühl der fünfziger Jahre schildert, eine Romeo- und-Julia-Story vor dem Hintergrund sozialer Spannungen und des Rassismus zweier Straßen-Gangs, so soll die "WestEndOpera” heutiges jugendliches Selbstverständnis spiegeln. Straßen-Gangs gibt es auch in den Neunzigern, Rassismus, Romeos und Julias sowieso, Drogen, Gewalt, wenig Aussichten. Aber der Sound hat sich geändert. Mit dem Wort Musical will Enxing am liebsten gar nicht erst verbunden werden. Eine "HipHopera” solle man es eher nennen ? verglichen mit der "West Side Story”: statt Messerstechereien Skateboard-Duelle, statt Tanzball Rap, statt Jungs mit geöltem Haar übergroße Skimützen und schlurfender Gang. Authentisch wird es wohl werden, weil nur welche daran arbeiten, die wissen, was Sache ist. Wie Kerstin. Als sie fertig ist mit Erzählen, klatschen ihre "Opera”-Kollegen lange und laut. Ein Mädchen sagt zu Kerstin: "Ich kenne das von meinem Freund, der war auch auf Heroin. Furchtbar.” Der 25jährige Kan von den NPL-Bragnaz aus Neuperlach, einer HipHop-Gruppe, die sich mit Texten, Tanz und Kompositionen an der "Opera” beteiligen wird, meint zu Kerstins Geschichte: "Das sind alles so Facetten für die Handlung. Auch Konflikte zwischen den verschiedenen Arten von Menschen. Kampf. Oder schwanger werden. Die Liebe. Das muß alles unter einen Hut.” Enxing motiviert die Truppe zu zeigen, was sie drauf hat: "Wir können euch hier vieles beibringen, aber nicht, euer Herz in die Hand zu nehmen und auf die Bühne zu gehen. Lampenfieber gehört dazu. Und hinterher ist es ein ziemlich geiles Gefühl.” Enxing spricht aus Erfahrung. Zusammen mit Städtler war er bei der 1968 in Köln gegründeten Band Floh de Cologne. Der Stern nannte sie einst die "härteste deutsche Polit-Rock-Gruppe”. Linke Agitation mit harten Fakten und sozialen Fiktionen waren bis in die achtziger Jahre hinein Programm. Jetzt also HipHop. Kann ein Alt-Freak wie Enxing überhaupt etwas damit anfangen? Er sagt: "Ich bin immer auf der Suche nach Neuem. Das kann heute nur Pop-Musik sein. HipHop ist auf dem Weg vom Untergrund ins Etablierte, wie damals der Rock ’n’ Roll. Es kann doch keiner behaupten, er mache Avantgarde, solange er klassisch die akustische Gitarre zupft.” Eine Saite rührte die "WestEndOpera” bereits im Stadtrat. Der beschloß ? einstimmig ? einen Zuschuß in Höhe von 250  000 Mark zu spendieren. Trotzdem fehlt noch ein Batzen Geld, um das Projekt auf die Bühnenbretter zu bringen. Sponsoren werden gesucht. Insgesamt belaufen sich die Kosten wohl auf 1,5 Millionen Mark. Zum Beispiel soll, wenn im April Handlung und Musik stehen, ein renommierter Regisseur engagiert werden, der die "Opera” inszeniert. "Wenn es sein muß, holen wir Leander Haußmann”, sagt Enxing. "Wir machen ein Hochkulturprodukt, das am Ende im Deutschen Theater und anderen Häusern im In- und Ausland gespielt werden kann.” Bis dahin hätte das Stück einige Probeaufführungen zu fünf Mark Eintritt in Münchner Stadtteilen hinter sich. Jugendliche Zuschauer hätten über inhaltliche Diskussionen Einfluß darauf genommen. Es wäre ziemlich echt. Kerstin sagt: "Jeder trägt sein eigenes Problem da hinein. Trotz aller Unterschiede ? die Musik bringt uns zusammen.” Sie ging weg von Frankfurt, machte eine Therapie, fing in München ein neues Leben an. Die "WestEndOpera” ist jetzt ihr Job. Sie will ihn gut machen. Sie sagt: "Ich bin sicher: Wir werden es einfach tun.”
 

JOCHEN TEMSCH
 
 
 

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