"Cool" - Nerv getroffen
Respekt für diese Leistung! Zwanzig Minuten lang stand das Publikum,
schrie vor Begeisterung und applaudierte. So endete die Krönung eines
deutschlandweit einmaligen Projektes: die überragend gute Uraufführung
von "Cool", der "HipHopera" oder "WestEndOpera", im Chapeau-Claque-Zelt
auf dem Tollwood-Festival. Und so ging sie weiter, weil sich die Tänzer
spontan zu Flic-Flacs, Kopfschrauben und anderen halsbrecherischen Zugaben
hinreißen ließen, während die anderen nur mit dem Mund
am Mikro den Baß-Sound dazu machten. Jeder, der noch ein Ohr für
das hat, was Jugendliche zu sagen haben, jeder, der noch nicht zu verbittert
ist, die Sehnsüchte der Jungen zu verstehen, verließ das Zelt
mit klopfender Brust. "Authentisch" ist ein Wort, das meistens lügt.
Hier sagt es die Wahrheit. Man muß sich nur mal vorstellen, was normale
Theaterleute aus dem Stoff geformt hätten, aus dem diese Oper ist:
das Lebensgefühl der Jugendlichen der neunziger Jahre. Im Jahre 2039
erinnert sich eine ältere Frau an die HipHop-Kultur von 1999. Sie
denkt an Yola, die auf Droge war, NTBS, den Sprayer, Serap, die Türkin
im Spagat zwischen den Kulturen, Sarah, die als Kind sexuell mißbraucht
wurde, und all die anderen, die sich im WestEndHaus trafen, einer Bruchbude,
um die schon die Bulldozer kreisten. Das stinkt nach Sozialfolklore und
Pädagogenkitsch. Aber nicht das, was das Ensemble daraus machte. 31
Jungen und Mädchen aus 21 Nationen im Alter zwischen 16 und 26 Jahren
entschieden selber, wie es funktionieren soll. Erfahrene Dramaturgen, Musiker
und Produzenten federführend war Vridolin Enxing von der Siebziger-Jahre-Politrock-Band
Floh de Cologne leiteten sie an. So erfanden die Jugendlichen Handlung,
Texte und Musik. Sie schufen eine Folge von Tanz- und Kampfszenen, Traumbildern
und Videosequenzen, in denen sie alles machen, was im HipHop-Lexikon steht.
Sie sprühen, skaten, rappen, improvisieren Partys, sie schlagen und
sie lieben sich. Die meisten der Darsteller haben den ganzen Horror von
Drogen, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Missbrauch und Zerrissenheit erlebt.
Deshalb spielen sie nicht nur, sie sind in jeder Minute mit Leib und Seele
dabei. Das macht "Cool" so cool, so gut. Deshalb trifft das Stück
tatsächlich den Nerv, wie ihn zum Beispiel seine Vorbilder, die Beat-
und Rockmusicals "Hair" und "Tommy", für ihre Zeit getroffen haben
mögen. Das Beste aber ist, daß das Ensemble keinen Randgruppen-Bonus
von politisch korrekt sein wollenden Kritikern braucht. "Cool" ist eine
professionell aufgezogene Sache. Die Darsteller sind großartig, Musik,
Gesang und Tanz sind spitze. Dem Können des Ensembles, nicht nur der
guten sozialen Tat, gelten am Ende die standing ovations. (Bis 23.6.)
JOCHEN TEMSCH